Türkei – Auch Gülen ist kein Unschuldslamm

In den Augen des Westens ist die Türkei kein Rechtsstaat. Wissenschaftler, Menschenrechtler, aber vor allem Publizisten teilen Abend für Abend in ARD und ZDF entsprechend aus, lassen an Recep Tayyip Erdogan kein gutes Haar. Sie schlagen sich ungeprüft auf die Seite seines Widersachers, des im US-Exil lebenden Predigers Fethullah Gülen. Ihn bezichtigt das Erdogan-Lager nicht ganz zu Unrecht, einer der Drahtzieher des schnell gescheiterten Putsches gewesen zu sein . Dieses Schwarz-Weiß-Denken des Westens hat bereits mehrfach in der jüngeren Geschichte (s. Afghanistan, Irak, Syrien) in die Irre geführt und wird auch diesmal der tatsächlichen Situation in der Türkei nicht gerecht.

Deshalb ist es richtig, wenn der Generalsekretär des Europarats, Thorbjørn Jagland, der erste ranghohe Vertreter, den die EU nach dem Putschversuch in die Hauptstadt Ankara schickte, ein gewisses Verständnis für Präsident Erdogan signalisierte. Obwohl die Mehrheit aller Türken hinter ihm steht, ist der innenpolitische Druck, der auf Erdogan lastet, enorm. Die Attacken des IS haben die Bevölkerung verunsichert und halten Touristen fern. Die Wirtschaft, die viele Jahre unter Erdogan nur Wachstum kannte und wie ein Kitt die gesellschaftlichen Gruppen zusammenhielt, bricht ein. Die Türkei spielt nicht nur wegen des Flüchtlingsabkommens für die EU eine zentrale Rolle, sondern auch als Bollwerk gegen militante Teile des Islam. Die Türkei ist ein Land der Gegensätze, das nur mit harter, fast diktatorischer Hand geführt werden kann. Das ist schlimm, aber wahr. Der Wirtschaftseinbruch wird dazu führen, dass die Menschen wieder stärker ihr Heil in der Religion suchen. Der die moderne Türkei prägende Laizismus ist in Gefahr. Prediger wie Gülen könnten noch mehr Rückhalt gewinnen. Das Land würde nicht besser, allenfalls in einen Bürgerkrieg gestürzt. Für Europa wäre das die schlech-tere Variante, denn auch Gülen ist kein Unschuldslamm.

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