Wenn Kartell-Kronzeugen lieber schweigen
Die GWB-Novelle wird auch die Rechte potenziell Kartellgeschädigter erweitern. Sie können künftig schon die Herausgabe von Unterlagen fordern, noch bevor sie eine Klage in der Hauptsache einreichen. Für Kartellanten steigt damit das Risiko, nach einer Kartellbuße auch für Schadenersatz in Anspruch genommen zu werden. Je nach Einzelfall müssen sich Kartellanten sehr genau überlegen, ob sie als Kronzeugen auftreten, da sich daraus weitreichende Konsequenzen für ihre Position in anschließenden Auseinandersetzungen um Kartell-Schadensersatz ergeben können, sagt Silvio Cappellari, Rechtsanwalt der Wirtschaftskanzlei SZA Schilling, Zutt & Anschütz am Standort Brüssel.
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Süßwaren, Industriezucker, Wurst, Tapeten, Kaffee, Drogerieartikel oder Lastwagen – Deutschland steht immer stärker im Mittelpunkt von Kartell-Schadensersatzklagen. Hintergrund ist, dass hierzulande, neben den Niederlanden und dem Vereinigten Königreich, die besten Voraussetzungen für die zivilgerichtliche Geltendmachung derartiger Ansprüche bestehen. Im Regelfall werden die Schadensersatzverlangen auf der Grundlage einer behördlichen Bußgeldentscheidung vorgebracht (Follow on). Immer häufiger übersteigen die Schadensersatzforderungen die Kartellbuße sogar. Auch wenn es im Ergebnis bislang in der überwiegenden Zahl der Fälle zu Vergleichen gekommen ist, handelt es sich insbesondere für Klägervertreter um ein lukratives Geschäftsfeld. Sie agieren dabei immer aggressiver. So plant eine Kanzlei, gegen deutsche Kreditinstitute wegen möglicher Absprachen über Kartengebühren im Wege einer stand-alone-Klage (also ohne vorangehende Bußgeldentscheidung) vorzugehen.
Neuer Herausgabe- und Auskunftsanspruch
Eine Abschwächung dieses Trends ist nicht in Sicht, im Gegenteil: Die Schadensersatz-Richtlinie der Europäischen Kommission, deren Umsetzung in Deutschland in diesen Tagen im Rahmen der 9. GWB-Novelle erfolgen wird, bringt erhebliche Erleichterungen für Schadensersatzkläger sowohl in prozessualer als auch in materiellrechtlicher Hinsicht. Insbesondere wird erstmals ein Herausgabe- und Auskunftsanspruch geschaffen, um die Beweisführung in Kartellschadensersatzverfahren zu erleichtern (oder gar erst zu ermöglichen). Dabei handelt es sich um einen eigenständigen Anspruch potenziell Kartellgeschädigter auf Herausgabe von Beweismitteln oder – als milderes Mittel – Auskunftserteilung über den Inhalt von Unterlagen, die für die Geltendmachung eines Schadensersatzanspruchs erforderlich sind. Der Anspruch kann bereits zur Vorbereitung eines eventuellen Schadensersatzprozesses geltend gemacht werden, d. h. bevor eine Klage in der Hauptsache überhaupt eingereicht wird. Damit wird ein Instrument eingeführt, das dem deutschen Recht bislang weitgehend fremd ist und eher an die Discovery-Verfahren des anglo-amerikanischen Rechtskreises erinnert.
Informationen genau dosieren
Die skizzierte Entwicklung macht die Rechtsberatung von Kartellanten (noch) komplexer. Etwa drohende Schadensersatzklagen sind bereits im Rahmen der kartellbehördlichen Bußgeldverfahren in die strategischen Erwägungen mit einzubeziehen. Unter anderem muss jegliche Kooperation mit den Kartellbehörden, sei es im Rahmen von Kronzeugenprogrammen oder von Vergleichsverhandlungen, noch stärker daraufhin durchdacht werden, welche Informationen und Unterlagen möglicherweise in späteren Schadensersatzprozessen wieder vorgelegt und zu Lasten des Kartellanten verwendet werden könnten.
Strategische Optionen im Kartell
Anders als bisher steht die Vermeidung oder zumindest Minderung einer drohenden Kartellbuße durch Stellen eines Kronzeugenantrags nicht mehr unbedingt im Vordergrund. Vielmehr ist eine einzelfallspezifische Gesamtabwägung der einschlägigen Risiken in den jeweiligen Verfahrensstadien vorzunehmen.
Vor einer kartellbehördlichen Untersuchung stellt sich die Frage, ob nach der internen Feststellung von Kartellverstößen eine Kronzeugenerklärung eingereicht werden sollte. Angesichts der auch einem Kronzeugen drohenden Schadensersatzansprüche geprellter Kunden kann die Risikoabwägung nunmehr anders ausfallen als vor der aktuellen Flut von Schadensersatzklagen. Tatsächlich ist die Zahl der Kronzeugenanträge zurückgegangen. Empfehlenswert ist aber, einen solchen Antrag zumindest intern „für die Schublade“ vorzubereiten, um schnell auf Durchsuchungen der Behörden reagieren zu können.
Während eines laufenden Kartellverfahrens stellt sich oftmals die Frage, ob man einen Vergleichsvorschlag der Kartellbehörde annehmen sollte. Neben einer Verminderung des Bußgelds um (bis zu) 10% hat eine Settlement-Entscheidung für Kartellanten den Vorteil, dass sie wesentlich weniger ausführlich ist als eine im streitigen Verfahren ergangene Entscheidung – insbesondere enthält sie weniger Informationen, die für die Schadensermittlung relevant sind. Auf der anderen Seite ist aber zu beachten, dass eine Settlement-Entscheidung deutlich früher ergeht, so dass auch darauf basierende Schadensersatzklagen erheblich schneller eingereicht werden können. Im LKW-Verfahren der Europäischen Kommission optierten fünf der sechs Unternehmen für ein Settlement.
Nach Abschluss des Kartellverfahrens kann es sich gegebenenfalls empfehlen, proaktiv auf Geschädigte zuzugehen, um einen außergerichtlichen Vergleich herbeizuführen und so die wirtschaftlichen Beziehungen zu wichtigen Kunden nicht durch einen jahrelangen Rechtsstreit zu gefährden.
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