Venezuela – Untergang mit „Börsenboom“
Verkehrte Welt in der venezolanischen Hauptstadt Caracas. Während sich die wirtschaftliche Misere des Landes zu einer regelrechten Katastrophe verdichtet, gehen die Börsenkurse durch die Decke. Das Land befindet sich seit Jahren in einer Abwärtsspirale aus Dauerrezession und Hyperinflation, während sich die politischen und sozialen Strukturen in eskalierenden innen- und außenpolitischen Konflikten auflösen. Das bedeutet in Zahlen: Die 2016 mit 275% außer Kontrolle geratene Inflation wird nach Schätzung des IWF in diesem Jahr zwischen 700 und 1000% ankommen, während das Tempo der BIP-Schrumpfung abnimmt. Nach -18% im vergangenen Jahr soll es im laufenden Jahr „nur noch“ um 7,5% bis 8% abwärts gehen. Der Zerfall greift längst die physischen Grundlagen des Landes an. Die Sterblichkeit, insbesondere bei Müttern und Kindern sowie chronisch Kranken, steigt sprunghaft, weil es kaum noch eine geregelte Gesundheitsversorgung gibt.
Trotz dieser Misere ist der Index der Börse in Caracas seit Jahresbeginn von rund 27 600 Punkte auf zuletzt 123 645 Punkte gestiegen und hat sich damit in einem halben Jahr mehr als vervierfacht. Der Index wird allerdings in Bolivar (VEB) berechnet, spiegelt also den wegen der scharfen Preis- und Kapitalkontrollen schwer zu beziffernden Inflationseffekt. Ein Anhaltspunkt für den hohen Druck liefert die Diskrepanz zwischen dem offiziellen Kurs von 10,21 Bolivar je US-Dollar zum Schwarzmarktpreis, wo Anfang Juni offenbar 450 bis 500 Bolivar je Dollar bezahlt wurden. Der Kursgewinn dürfte inflationsbereinigt also nicht sehr groß sein, wenn es überhaupt einen realen Gewinn gibt. Die Wurzel des Übels in Venezuela ist eine völlig überzogene Politik, die den Reichtum des Opec-Landes mit großen Ölreserven verschwendet hat. Nach innen wurden untragbare Subventionen und soziale Wohltaten gewährt, die offenbar u. a. dazu führten, dass Benzin zeitweilig billiger war als Trinkwasser.
Auch die Außenpolitik wurde auf Öleinnahmen gebaut. Venezuela versuchte, sich im Dauerkonflikt mit den USA das Wohlwollen der regionalen Nachbarn durch großzügige Lieferungen von geschenktem oder stark verbilligtem Öl zu kaufen. Das ganze System brach zusammen, als die Ölpreise nachzugeben begannen. Zunächst fand der damalige Präsident Hugo Chávez noch Kreditgeber in China und Russland, die sich ihre Dienste allerdings teuer bezahlen lassen. Venezuela hat russische Kredite durch die Übertragung von Anteilen an Ölfeldern abgelöst. China zahlt – soweit von außen nachvollziehbar – nicht mehr und verlangt Öl-Lieferungen. Von der nominal glänzenden Performance der venezolanischen Börse sollte sich niemand irritieren lassen, solange es keinen grundlegenden politischen Wandel gibt.