Russland – Risse im Beton
Die Wirtschaftsnachrichten aus Russland waren in letzter Zeit deutlich negativ. Die für das zweite Quartal gemeldeten 4,9% dürften eher für Misstrauen als für Erleichterung sorgen. Schließlich stecken gerade hier viele Fragezeichen angesichts der konkreten Sanktionsfolgen.
Aufgrund fehlender Zulieferungen aus dem Westen werden viele Industrieprodukte mit eingeschränkter Funktionalität oder verminderter Qualität ausgeliefert. Das wird in der Statistik auf dem Weg von nominalen Erlösen zum realen Wertzuwachs neben Inflationsabschlägen berücksichtigt, was ein weites Feld der Manipulation eröffnet.
Vor diesem Hintergrund wirkt der heftige Absturz der Rubelkurse wie ein Dementi der Erfolgsmeldung. Dass gleichzeitig Euro und US-Dollar ohne großen Widerstand die Schwelle von 100 Rubel überspringen konnten, ist ein Warnzeichen. Offenbar können die noch bestehenden internationalen Verbindungen (etwa die Bereitschaft indischer Banken, mittels Korrespondenz-Konten als Brückenkopf in die internationalen Märkte zu fungieren) die Sanktionen nicht kompensieren. In jedem Fall ist mit dieser Abwertung ein deutlich negativer Effekt auf das BIP zu erwarten, da Russland die theoretische Verbesserung der Wettbewerbsposition (günstigeres Angebot) nicht in einem verstärkten Export auffangen kann. Dem stehen neben der Abhängigkeit vom Rohstoffexport vor allem die Sanktionen entgegen.
Auch der jüngste Bericht der russischen Notenbank zum Kapitalverkehr liefert eine Warnung: Diesen offiziellen Angaben zufolge beläuft sich die Kapitalflucht aus Russland seit dem Überfall auf die Ukraine (also etwa fünf Quartale) auf über 250 Mrd. Dollar, was in Dollar gerechnet 9% bis 10% vom BIP ausmacht. Da die abziehenden westlichen Unternehmen im Zuge der staatlich kontrollierten „Verkäufe“ weitgehend enteignet werden, scheint hier tatsächlich ein verstärkter Abfluss russischer Mittel stattzufinden. Unterm Strich müssen sich die russischen Bürger darauf einstellen, dass ihr Lebensstandard weiter sinken wird, was für die Masse der Bevölkerung gemessen am verfügbaren Einkommen bereits seit 2013 stattfindet.
Das Ausmaß des Scheiterns des Putin-Regimes zeigt sich auch im Vergleich zu den aus dem Ostblock zur EU gewechselten Staaten. Noch 2013 erzielten die Polen 85% und die Bulgaren (die bis heute ärmsten EU-Bürger) sogar nur 48% des russischen BIP pro Kopf (jeweils auf Dollarbasis). Da stimmte das Verhältnis zwischen oben und unten für russische Ansprüche und Gefühle noch. Das hat sich aber geändert: Die Polen haben die Russen bei der Wirtschaftskraft bereits überholt (120%), während Bulgarien mit den mittlerweile erreichten 85% des russischen Niveaus zum Überholen ansetzt.
Bislang gelingt es dem Moskauer Machthaber, von seiner Verantwortung für die Misere mit der Erzählung vom „aggressiven Westen“ abzulenken. Wenn aber die EU-Beitritte der Westbalkanstaaten ähnliche Erfolge zeigen, wird unübersehbar, dass Russland in Wladimir Putins Amtszeit nicht zur alten Weltgeltung aufgestiegen, sondern zum Armenhaus Europas heruntergekommen ist. mk