EU-Gesundheitskommissar hegt revolutionäre Pläne

"Am 31.1.18 veröffentlichte die EU-Kommission den Vorschlag für eine Verordnung, die die Gesundheitssysteme in der EU grundlegend verändern könnte. EU-Gesundheitskommissar Vytenis Andriukaitis sieht darin gar „das Potenzial für eine Revolution im Gesundheitswesen"". Es geht um eines der Herzstücke unseres Gesundheitssystems: Die Nutzenbewertung von Arzneimitteln und Medizinprodukten. Was das nun u. a. für die deutschen Gremien Gemeinsamer Bundesausschuss (GBA) und Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) heißt, hat sich Roland Wiring, Partner bei CMS Hasche Sigle, angeschaut."

Mit ihrem Vorschlag setzt die EU-Kommission einen Prozess fort, der schon vor Jahren angestoßen wurde. Es geht ihr um eine engere Zusammenarbeit der Mitgliedsstaaten bei der Bewertung von neuartigen Arzneimitteln und Medizinprodukten, auch als Health Technology Assessment (HTA) bezeichnet. Den Kern bildet eine gemeinsame klinische Nutzenbewertung, die für die Mitgliedsstaaten verbindlich wäre.

Die Kommission identifiziert drei Kernprobleme des heutigen, durch nationale Besonderheiten geprägten Systems: Beschränkungen des Marktzugangs wegen divergierender Kriterien, Doppelarbeit für HTA-Gremien sowie die fehlende Nachhaltigkeit der Kooperation auf EU-Ebene. Der Entwurf sieht – verkürzt gesagt – vor, die HTA-Bewertung von zentral zugelassenen Arzneimitteln und bestimmter Medizinprodukte sowie In-vitro-Diagnostika auf eine auf EU-Ebene einzurichtende HTA-Organisation zu übertragen. Organisatorisch sollen Studien zur klinischen Bewertung durch einen Mitgliedsstaat vorgenommen und von einem anderen Land als Zweitgutachter begleitet werden. Die Ergebnisse sollen dann für alle anderen Mitgliedsstaaten verbindlich sein und als Grundlage für die Bewertung in den nationalen Krankenversicherungssystemen dienen. Eine europäische Zusatznutzenbewertung könnte damit ähnlich funktionieren wie die europäische Zulassung von Arzneimitteln, bei der nationale Behörden unter Leitung der European Medicines Agency (EMA) und der EU-Kommission zusammenarbeiten.

Ein umstrittenes Projekt – Pro und Contra

Die öffentlich geäußerten Meinungen zum Vorschlag sind gespalten. Befürworter argumentieren, dass mit der Verordnung ein gewisses Maß an Verlässlichkeit erreicht werden könne. Positiv könnte sich die in dem Vorschlag angelegte engere Verzahnung von Zulassungsbehörden und Nutzenbewertungsgremien auswirken. Denn hier sind in der praktischen Arbeit derzeit mitunter Friktionen zu beobachten, die die Prozesse der Zulassung auf der einen und der Erstattung auf der anderen Seite verkomplizieren. Abweichende Beurteilungen von HTA-Gremien anderer Mitgliedsstaaten können den Marktzugang erschweren. So wird gerade aus Herstellersicht ein Vorteil der geplanten EU-Bewertung in berechenbareren Nutzenkriterien für alle europäischen Gesundheitsmärkte gesehen. 

Kritiker stellen die grundlegende Frage, ob die EU überhaupt die erforderliche Regelungskompetenz zum Erlass einer solchen Verordnung hat. Denn diese würde tief in die Autonomie der einzelnen Mitgliedsstaaten für ihre Gesundheitssysteme eingreifen. So lässt sich argumentieren, dass die EU im Bereich der Sozialversicherung keine Regelungszuständigkeit hat und dass die Kompetenz zur Regelung des Binnenmarktes als Rechtsgrundlage nicht ausreiche.

Auch die Folgenabschätzung der EU-Kommission lässt sich kritisch hinterfragen. Rein praktisch dürfte die Anwendung einheitlicher Bewertungsmaßstäbe und die verpflichtende Übernahme von Bewertungskriterien anderer Mitgliedsstaaten die betroffenen HTA-Gremien, die Hersteller und auch die Kassen gerade in der Übergangszeit vor nicht unerhebliche Herausforderungen stellen. Befürchtet wird, dass das Versorgungsniveau insgesamt sinken könnte. Und das bei steigenden Kosten, weil mehr Arzneimittel als bisher eine positive Nutzenbewertung erhalten könnten. Dagegen lässt sich anführen, dass die Preisbildung auch nach dem Vorschlag der EU-Kommission ausdrücklich in der Hand der Mitgliedsstaaten bleiben soll. Laut Kommission können die Mitgliedsstaaten nichtklinische Nutzenaspekte neuer Therapeutika auch in Zukunft ebenso in eigener Hoheit erheben wie den Zusatznutzen. Ihnen bleibe damit weiterhin selbst überlassen, den Mehrwert einer Gesundheitstechnologie abzuschätzen und die für ihr jeweiliges Gesundheitssystem relevanten Entscheidungen zu treffen.

Ausblick

Der Verordnungsvorschlag birgt erheblichen Sprengstoff. Er wird im nächsten Schritt des europäischen Gesetzgebungsprozesses kontrovers diskutiert werden und sicherlich noch eine Reihe von Änderungen und Anpassungen erfahren. Ein zentraler Aspekt wird dabei die Gesetzgebungskompetenz sein. Hier gibt es gerade in Deutschland erhebliche Vorbehalte. Ob die Einführung einer verpflichtenden Übernahme von Nutzenbewertungen eines anderen Mitgliedsstaates tatsächlich auf EU-Ebene vorgegeben werden kann, erscheint fraglich. Auch die konkrete Ausgestaltung der Zusammenarbeit, die Rolle der nationalen HTA-Gremien und die Verzahnung zwischen zentraler klinischer Nutzenbewertung und nationaler Preisgestaltung sowie Erstattung dürfte die weitere Diskussion bestimmen. Man darf gespannt sein, in welche Richtung sich dieses Projekt entwickelt – und ob es tatsächlich das Potenzial für eine Revolution im Gesundheitswesen hat.

 

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