Kollektiver Rechtsschutz – Erste Reformen greifen

Der kollektive Rechtsschutz von Verbrauchern gegen Unternehmen fristet in Deutschland bis heute ein Schattendasein. Im Gegensatz zu Verbrauchern in den USA, denen die so genannte class action zur Verfügung steht, können deutsche Verbraucher juristisch nur sehr eingeschränkt im Kollektiv gegen Unternehmen vorgehen. Dies wird sich ab dem 1.11.18 ändern, wenn das neue Gesetz über Musterfeststellungsklagen für Verbraucher in Kraft tritt, dessen unmittelbarer Anlass der Dieselskandal ist. Anke Sessler und Markus Perkams von der Wirtschaftskanzlei Skadden, Arps, Slate, Meagher & Flom geben einen Überblick über die praktischen Folgen.

 Rechtstechnisch sieht das neue Gesetz vor, dass gesetzlich definierte Verbraucherschutzverbände durch ein einziges Mus-
terfeststellungsverfahren das Vorliegen tatsächlicher und rechtlicher Anspruchsvoraussetzungen für eine Vielzahl von Verbrauchern klären lassen können. In Bezug auf den Diesel-skandal könnte dies z. B. die Frage sein, ob die Verwendung einer unzulässigen Software eine die Verbraucher grundsätzlich zum Schadensersatz berechtigende Pflichtverletzung der Automobilhersteller darstellt. Das Gesetz lässt also keine kollektiven Schadensersatzklagen zu, sondern ist auf die Klärung von Tatsachen und Rechtsfragen beschränkt. Die vom zuständigen Oberlandesgericht getroffenen Feststellungen gelten dann für alle Schadensersatzklagen, die im Anschluss von den Verbrauchern, die sich für das Verfahren registriert haben, individuell angestrengt werden können.

Über die Dieselproblematik hinaus könnte das neue Gesetz im Zusammenhang mit dem kürzlich reformierten Recht für Kartellschadensersatzklagen Bedeutung erlangen. Hier hat der Gesetzgeber 2017, in Umsetzung der entsprechenden EU-Richtlinie, das Private Enforcement u. a. dadurch gestärkt, dass die gesetzliche Vermutung des Eintritts eines Schadens festgeschrieben, Auskunftsansprüche gegen die Kartellanten geschaffen und die Besonderheiten des Kartellrechts berücksichtigende Verjährungsvorschriften eingeführt wurden. Der Gesetzgeber hat jedoch – in Einklang mit der EU-Richtlinie – bisher davon abgesehen, auch Regeln für den kollektiven Rechtsschutz in Kartellklagen zu schaffen. Deshalb ist es für Verbraucher trotz des neuen Kartellrechts weiterhin unattraktiv, Kartellschäden gerichtlich geltend zu machen. Denn die Schadenspositionen der einzelnen Verbraucher sind regelmäßig relativ niedrig, während die Kosten für die Rechtsdurchsetzung im Vergleich dazu, insbesondere wegen der schwierigen Schadensberechnung, unverhältnismäßig hoch sind.

Kombination gesetzlicher Regelungen sinnvoll

An dieser Schnittstelle könnte eine Kombination des neuen Gesetzes zu Musterfeststellungsklagen mit den neuen Regeln des Kartellschadensersatzrechts ansetzen. Klagende Verbraucherschutzverbände könnten das Kostenrisiko für Verbraucher dadurch abfedern, dass sie einzelne Sach- und Rechtsfragen zur Schadensberechnung, wie etwa die hypothetische Preisentwicklung ohne Beeinflussung durch das Kartell, durch einen Feststellungsantrag feststellen lassen, damit die Verbraucher anschließend ihren Schaden einfacher berechnen und im Wege von Schadensersatzklagen durchsetzen können.
Weitere Relevanz kann das neue Gesetz zudem im Zusammenspiel mit Art. 82 der neuen Datenschutzgrundverordnung entwickeln, der Verbrauchern bei Datenschutzverstößen einen Schadensersatzanspruch gewährt.

Dieser Schadensersatzanspruch erscheint deshalb besonders brisant für Unternehmen, da der europäische Gesetzgeber umfangreiche Vorgaben zur rechtskonformen Datenverarbeitung gemacht und er deren Einhaltung u. a. dadurch abgesichert hat, dass zukünftig auch immaterielle Schäden ersetzt werden müssen. Auch wenn die Grundlagen für die Berechnung dieser immateriellen Schäden noch zu entwickeln sind, müssen Unternehmen sich schon jetzt auf ein erheblich höheres Schadensersatzrisiko als bisher einstellen.

Da Datenschutzverstöße häufig eine Vielzahl von Verbrauchern betreffen, es hier schon seit langem aktive Verbraucherschutzverbände gibt und der Datenschutz nach Inkrafttreten der Verordnung an Bedeutung gewinnt, erscheint eine Verbindung des neuen Gesetzes mit dem neuen Datenschutzrecht naheliegend. Feststellungsfähige Fragen könnten etwa Bestehen und Umfang des Datenschutzverstoßes oder relevante Anknüpfungspunkte für die Schadensberechnung betreffen.

Weitere Veränderungen sind absehbar

Ungeachtet der Frage, ob und wie sich die neuen Vorschriften in der Praxis bewähren, erscheint es schon jetzt als sehr wahrscheinlich, dass das Gesetz in naher Zukunft gründlich überarbeitet werden wird. Der Anlass hierfür wird die derzeit auf europäischer Ebene diskutierte Richtlinie über Musterfeststellungsklagen für Verbraucher sein, die, jedenfalls nach jetzigem Stand der Beratungen, deutlich über das deutsche Gesetz hinausgehen wird. Gemäß dem von der EU-Kommission als „New Deal“ angepriesenen Richtlinienentwurf sollen z. B. im Wege des kollektiven Rechtsschutzes nicht mehr nur Feststellungsanträge zulässig sein, sondern auch Klagen auf Schadensersatz erhoben werden können. Ebenso sollen, auch insoweit in deutlicher Abweichung von der bisherigen Rechtslage in Deutschland, umfassende Auskunftsansprüche der Verbraucher gegen die beklagten Unternehmen
geschaffen werden, um Kollektivklagen zu erleichtern.

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