Exklusiv

„Ich sehe keinen Grund, warum wir zwei Schritte hintereinander setzen sollten“

PLATOW-Redakteur Jan Mallien im Interview mit dem Gouverneur der Oesterreichischen Nationalbank Robert Holzmann

Gouverneur Holzmann, Sie gelten als Verfechter einer straffen Geldpolitik. Die Märkte rechnen fest mit einer Zinssenkung der EZB im Juni. Wären Sie dafür?
Das hängt davon ab, wie die Daten im Juni sein werden. Wenn es keine sichtbare Klebrigkeit der Inflation gibt, würde ich das unterstützen.

Was meinen Sie genau?
Die Gefahr, dass sich die Inflation als hartnäckiger erweist und teilweise wieder steigt. Es gibt Argumente bei der Geldpolitik weicher zu werden, aber ich sehe auch einige Risiken.

Die vergleichsweise schwache Wirtschaft im Euro-Raum spricht für eine Lockerung der Geldpolitik?
Das ist für mich das zentrale Argument, etwas weicher zu werden. Die europäische Wirtschaftsdynamik ist viel, viel geringer als in den USA. In Europa liegen wir bei einem Wachstum von ungefähr 0,5% – in den USA bei etwa 2% oder sogar darüber. Das führt dazu, dass Unternehmer in Europa weniger Möglichkeiten haben, Preiserhöhungen durchzusetzen.

Und was sind die Risiken?
Der Preisanstieg bei Dienstleistungen ist weiter hoch. Auch die um Energie und Nahrungspreise bereinigte Kerninflation ist höher geblieben. Ein sehr gefährlicher Faktor ist für mich außerdem immer noch die Geopolitik, gerade im Fernen Osten.

Sie haben kürzlich gewarnt, dass ein abrupter Anstieg der Ölpreise ein großer Schock wäre. Ab welchem Niveau würden Sie von einem großen Schock sprechen?
Die jetzigen Schocks sind klein und vorübergehend. Sie drücken aber die Nervosität des Marktes aus. Meine Befürchtung ist, dass ein Tanker in der Straße von Hormus angeschossen wird oder es gar zu dauerhaften Kämpfen zwischen Israel und Iran kommt. Dann wäre mit einer längeren Erhöhung der Ölpreise zu rechnen. Das wäre ein Grund, unsere Inflationsprognose wieder in Frage zu stellen. Kritisch ist immer, wenn bei einem Inflationsschock nicht absehbar ist, wie lange er dauert.

Ein Sorgenfaktor war lange auch die vergleichsweise starke Lohnentwicklung. Gibt es hier eine Trendwende?
Im Durchschnitt haben sich die Lohnerhöhungen abgeschwächt. Es gibt aber immer noch einige Branchen und Länder, wo sie über dem Niveau liegen, das wir für verkraftbar halten. Verkraftbar sind Lohnerhöhungen von 3%, also 2% Inflationsausgleich plus einen Produktivitätsfortschritt von 1%.

Sie meinen Länder wie Deutschland und Österreich?
Ja, aber auch etwa die Niederlande. Die Lohnentwicklung in den meisten südlichen Ländern ist schon seit Jahren schwächer, weil dort die Arbeitslosigkeit viel höher liegt.

Viele Ökonomen und einige Ihrer Ratskollegen gehen davon aus, dass es nach Juni eine ganze Serie von Zinssenkung in diesem Jahr geben wird. Teilen Sie diese Einschätzung?
Ich sehe keinen Automatismus. Unsere Entscheidungen hängen von den Daten ab. Wenn die Entwicklung so weitergeht, dann kann man sich vorstellen, dass es in diesem Jahr noch eine oder zwei Senkungen gibt, aber wenn die Entwicklung nicht so ist, dann eben nicht.

Auf der Ratssitzung im Juni legt die EZB neue Inflationsprognosen vor, im Juli nicht. Wären Sie dafür, nach einer möglichen Zinssenkung im Juni auf der danach folgenden geldpolitischen Ratssitzung erstmal abzuwarten?
Ja, im Juli haben wir keine neuen Informationen, daher würde ich von einem weiteren Schritt absehen. Ich sehe keinen Grund, warum wir gleich zwei Schritte hintereinander setzen sollten.

Wovon hängt das Tempo weiterer Zinssenkungen ab?
Je mehr die Daten und unsere Modelle darauf hinweisen, dass wir unser Inflationsziel 2025 erreichen, desto mehr Zinssenkungen sind angebracht. Wir haben bisher aber noch keine Diskussion darüber geführt, wo der Gleichgewichtszins liegt, wenn wir 2025 unser Inflationsziel erreichen. Ich erwarte, dass wir die Debatte darüber erst zum Jahresende führen.

Sie meinen den Punkt, wo die Geldpolitik die Wirtschaft weder stützt noch bremst.
Es gibt Schätzungen, die behaupten, dass der Gleichgewichtszins jetzt höher liegt als in der Niedrigzinsphase. Wenn er real 1% betragen würde und wir ein Inflationsziel von 2% haben, müssten wir bei einem Einlagenzins von 3% aufhören. Wenn er real nur bei 0,5% liegt, dann wären es 2,5%. Wir kennen das Umfeld noch nicht, aber die grobe Richtung. Ein Gleichgewichtszins von Null oder niedriger würde wiederum bedeuten, dass der neutrale Einlagenzins bei unter 2% liegt und sich der Zinsbeschränkung von Null nähern würde.

Was spricht dagegen?
Dann müssten wir im Falle von Deflationsanzeichen wieder auf unkonventionelle Geldpolitik zugreifen, was ich nicht hoffe.

Sie haben vor kurzem gesagt, dass die EZB in der Geldpolitik nicht zu stark von der US-Notenbank Fed abweichen sollte. Was spricht dagegen?
Zum einen könnte dies zu stärkeren Ausschlägen an den Anleihemärkten führen. In den USA ist der Finanzmarkt sehr groß, in Europa einiges kleiner. Wenn die Entwicklung auseinanderläuft, birgt das die Gefahr von unerwünschten Nebeneffekten. Zum anderen wissen wir aus der empirischen Forschung: Die Zinspolitik der EZB ist effektiver, wenn sie in die gleiche Richtung geht wie in den USA. Außerdem besteht im Falle einer steigenden Zinsdifferenz die Möglichkeit einer Abwertung des Euro. Das hätte einen weiteren Preisschub zur Folge, weil wir in vielen Bereichen immer noch in Dollar fakturieren.

Also kann die EZB nicht vom Kurs der Fed abweichen?
Doch, das können wir. Aber man muss diese Dinge berücksichtigen.

Ihre EZB-Ratskollegin Isabel Schnabel hat vorgeschlagen, ähnlich wie in den USA Zinsprognosen (dot plots) einzuführen, die die Ratsmitglieder der EZB abgeben. Was halten Sie davon?
Das ist eine diskussionswerte Idee. Ich habe schon zu Beginn meiner Amtszeit eine Debatte angeregt, wie wir besser kommunizieren können. Es gibt immer noch ein hohes Maß an Intransparenz, und das ist nie gut.

Welche Möglichkeiten sehen Sie?
Eine andere Variante wäre zum Beispiel, dass man bei wichtigen Entscheidungen formell abstimmt. Dabei hätten Ratsmitglieder, die gegen einen Beschluss sind, die Pflicht, ihren Standpunkt in einem Statement zu erklären. Nur dot plots einzuführen, geht aus meiner Sicht nicht. Ich denke aber, das war auch nicht gemeint.

Warum nicht?
Sie müssten mit entsprechender Kommunikation begleitet werden. Sonst besteht die Gefahr, dass sie wie eine Forward Guidance wirken und man sich dadurch zu früh auf einen bestimmten Kurs festlegt.

Ein anderes Thema, das kontrovers diskutiert wird, sind die Bestrebungen, die europäische Bankenunion durch eine gemeinsame Einlagensicherung zu vertiefen. Bundesbank-Präsident Joachim Nagel hat sich dafür ausgesprochen. Sehen Sie das auch so?
Die Frage ist, zu welchem Zeitpunkt man das macht und zu welchen Bedingungen. Ich bin dafür, die Bankenunion zu vertiefen. Aber erst müssen die Voraussetzungen erfüllt sein. Es gibt noch immer in manchen Ländern eine Reihe von Banken, die – vereinfacht gesagt – ihre Hausaufgaben noch nicht abgeschlossen haben. Diese Institute sind jetzt für eine gemeinsame Einlagensicherung, und die Institute, die ihre Hausaufgaben gemacht haben, sind dagegen. Außerdem kommt es darauf an, wann es ein stimmiges Gesamtkonzept gibt.

Was meinen Sie genau?
Im Rahmen der Debatte gibt es ja auch die Überlegung, dass man die Gelder, die wir individuell in den Staaten angesammelt haben, zu einem wesentlichen Teil zentral zur Verfügung stellt. In Österreich ist der Einlagensicherungsfonds mit rund 2 Mrd. EUR nahezu vollständig gefüllt. Da ist es schwer zu erklären, warum man das so machen sollte.

Ein Argument gegen die gemeinsame Einlagensicherung war immer, dass die Banken zunächst ihren Bestand an notleidendenden Krediten abbauen müssten. Deren Anteil ist inzwischen deutlich gesunken. Ist das Argument damit nicht hinfällig?
Sie sind gesunken, aber nicht weg. Außerdem steigen die notleidenden Kredite gerade wieder an. Jetzt zeigt sich, wie robust die Banken wirklich sind. Erst wenn die Ebbe kommt, sieht man, wer nackt ist. Also schauen wir mal. Wenn alle eine Schwimmhose anhaben, dann kann man es wagen. Sonst sollte man noch ein bisschen warten.

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