Gastbeitrag

Massenklage à la USA hat es in Deutschland schwer

Christian Karbaum
Christian Karbaum © Glade Michel Wirtz

Kartellrechtliche „Massenklagen“ sorgen regelmäßig für Aufsehen. Gestärkt durch gesetzgeberische Initiativen zur Erleichterung des Private Enforcement im Kartellrecht gewinnen auf diese Verfahren spezialisierte Kanzleien und Prozessfinanzierer immer mehr Anspruchsteller für gebündelte Klagen. Warum uns dennoch keine „amerikanischen Zustände“ drohen, erklärt Christian Karbaum, Kartellrechtspartner von Glade Michel Wirtz.

In Deutschland sind Verfahren zum Kollektivrechtsschutz zum einen aus dem Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetz (KapMuG) und zum anderen durch die 2018 eingeführte Musterfeststellungsklage bekannt. Während das KapMuG im Kartellrecht nicht gilt, hilft die Musterfeststellungsklage nur Verbrauchern. Diese machen Kartellschadensersatz aber nicht geltend, müssten sie doch nach dem Musterverfahren geringfügige Schäden selbständig der Höhe nach gegen das Kartell geltend machen („rationales Desinteresse“). Die geplante EU-Verbandsklage soll sogar insgesamt nicht für kartellrechtliche Ansprüche gelten. Soweit es im deutschen Kartellgesetz (GWB) mit der Vorteilsabschöpfung (§§ 34, 34a GWB) tatsächlich Mittel zur Bündelung gibt, werden sie nicht genutzt: Das Bundeskartellamt, das eine Abschöpfung zugunsten der Geschädigten anordnen kann, macht von seinen Befugnissen keinen Gebrauch. Die Abschöpfung durch Verbände ist ein stumpfes Schwert. Sie wirkt nur zugunsten des Haushalts.

Rückgriff auf Funktionsäquivalente

Im Kartellrecht greift die Praxis daher auf Funktionsäquivalente zurück, um Verfahren zu bündeln und das rationale Desinteresse zu überwinden. So können mehrere Anspruchsteller zwecks Erhöhung des Drucks auf Beklagte und Verringerung von Kostenrisiken als „Streitgenossen“ gemeinsam klagen. Risiken folgen jedoch aus der erhöhten Verfahrenskomplexität, die mit einer Vielzahl von Klägern und Ansprüchen naturgemäß steigt. Je nach Größe und Zusammensetzung einer Streitgenossenschaft ergeben sich auch rechtliche Probleme, z. B. bei der Bestimmung des Gerichtsstands sowie, im internationalen Kontext, des anwendbaren Rechts.

Alternativ können Ansprüche auch gegen Erfolgsbeteiligung an so genannte Klagevehikel verkauft werden, die diese dann gerichtlich geltend machen. Vorteilhaft für Geschädigte ist die grundsätzliche Befreiung von Kostenrisiken, weil Klagevehikel i. d. R. nur im Erfolgsfall eine Prämie erhalten. Aber auch hier bestehen Risiken: Individuelle Verhandlungen mit Schädigern und ähnliche Steuerungsmöglichkeiten sind ausgeschlossen. Verschiedene Klagen von Vehikeln wurden allein wegen technischer Mängel beim Aufsetzen der Vehikel abgewiesen, die z. B. wegen Verstoßes gegen die guten Sitten oder das Verbot der Erfolgsvergütung nichtig waren. Auch ist die Dauer solcher Verfahren oft nicht absehbar: So hat im Großverfahren um die Branchenklage der Deutschen Bahn, die vom Air Cargo-Kartell für zahlreiche Logistikunternehmen über 1,6 Mrd. Euro fordert, nach nun fast sechs Jahren noch nicht einmal die erste mündliche Verhandlung stattgefunden. Sind Schäden Einzelner aber so gering, dass der Aufwand der individuellen Anspruchsverfolgung unverhältnismäßig wäre, kann der Anschluss an ein Vehikel sinnvoll sein.

Deutsche Discovery

Das Private Enforcement wurde 2017 durch die 9. GWB-Novelle gestärkt. Im Zentrum stand u. a. der Anspruch Geschädigter auf Herausgabe jener Beweismittel durch die Kartellteilnehmer, die zum Nachweis des Schadens notwendig sind. Zunächst als „German-Discovery“ oder „Discovery light“ betitelt, ist aktuell „Rohrkrepierer“ passender. Die Rechtsprechung wendet die Vorschrift nur auf Kartelle an, in denen nach Inkrafttreten der 9. GWB-Novelle Schäden entstanden sind. Neue Dynamik könnte aufkommen, wenn der Gesetzgeber entsprechend einer Anregung der Bundesrechtsanwaltskammer im Rahmen der anstehenden 10. GWB-Novelle die Anwendbarkeit auf Altfälle erstreckt.

Keine Notwendigkeit weitergehender Reformen

Im US-amerikanischen Recht folgt die besondere Dynamik der Massenklagen aus den bekanntlich umfassenden Pre-trial Discovery-Rechten, der Zusammenlegung von Einzelverfahren, der Entscheidungsgewalt von Laienjurys, der „American rule of cost“ (d. h. jede Partei trägt ihre Anwaltskosten selbst), den Freiheiten bei der Gestaltung von Erfolgshonoraren zur Incentivierung der Anwälte und deren auch dadurch gespeiste Möglichkeit, Werbung zu treiben und Mandanten beispielsweise durch TV-Spots zur Primetime zu gewinnen.

Davon ist Deutschland (noch) weit entfernt. Dies ist auch gut so, geht es doch im deutschen Recht um eine Kompensa-tion erlittener Einbußen und nicht darum, durch möglichst viel Druck möglichst hohe Zahlungen zu erzwingen oder durch Jurys zugesprochen zu bekommen. Die Vielzahl der in Deutschland anhängigen Kartellschadensersatzklagen zeigt, dass Rechtsschutz gewährleistet ist. Zwar gibt es noch wenige Urteile zur Schadenshöhe. Dies liegt aber daran, dass die meisten Verfahren noch nicht so weit sind. In vielen Fällen steht dies nun aber an, so dass sich – nach der Praxis zum Anspruchsgrund – nun auch die Rechtsprechung zur Anspruchshöhe entwickeln wird. Würden zusätzliche Instrumente zur Erleichterung des Private Enforcement eingeführt, etwa die von der „Plaintiffs‘ Bar“ geforderte Schadenvermutung der Höhe nach, so würde dies das Erpressungspotenzial noch erhöhen, (selbst wackelige) Klagen anzudrohen und Zahlungen allein zur Verfahrens- und Kostenvermeidung zu fordern.

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