Gastbeitrag

Wer regelt die Arbeitsbedingungen der Zukunft?

Bernd Pirpamer
Bernd Pirpamer © Eversheds Sutherland

_ Die Auswirkungen des Lockdowns und der Wirtschaftskrise belasten die deutschen Unternehmen unterschiedlich. Manche sind mit Restrukturierungen oder sogar einer Insolvenz konfrontiert, bei anderen „boomt“ das Geschäft. Gewinner und Verlierer unterliegen aber häufig gleichermaßen den Arbeitsbedingungen eines Flächentarifvertrages. Wozu führt das? Antworten gibt Bernd Pirpamer, Partner bei Eversheds Sutherland.

Die Unternehmenslenker werden vom Markt auf die Probe gestellt. Arbeitskosten, Personalbestand und Standorte müssen wettbewerbsfähig strukturiert sein. Einheitliche Entgelterhöhungen für alle tarifgebundenen Unternehmen einer Branche oder verwaltungsaufwändige komplexe Tarifregularien leiden an der fehlenden Differenzierung hinsichtlich der unterschiedlichen Rahmenbedingungen der einzelnen Unternehmen.

Die Arbeitgeberverbände haben das erkannt und bieten seit vielen Jahren auch Mitgliedschaften ohne Tarifbindung an. Damit gelingt der Spagat in der Mitgliedschaft zwischen Flächentarifvertrag und Tariffreiheit hervorragend. Abzuwarten bleibt, ob und wie sich die Flächentarifverträge auch inhaltlich auf unternehmensbezogene Bedürfnisse ausrichten. Modulare oder „atmende“ Flächentarifvertragsmodelle, also unternehmensbezogene Tarifbausteine oder Öffnungsklauseln auf Betriebsebene, können eine Lösung sein. Die Individualisierbarkeit von Arbeitsbedingungen hängt hierbei stark von dem verbleibenden Einfluss der Gewerkschaften ab. Die Frage bleibt: Was dürfen die Betriebsparteien wirklich selbst entscheiden und wozu bedarf es der Zustimmung der Gewerkschaft?

Modelle mit und ohne Tarifbindung

Eine tarifliche Variante ist der Haus-, Firmen oder Unternehmenstarifvertrag. Einfache und komplexe Beispiele sind bekannt und weitere zu erwarten. Unternehmen gestalten mit den zuständigen Gewerkschaften direkt die unternehmens- oder betriebsbezogenen Arbeitsbedingungen. Entgeltstrukturen, Arbeitszeiten, Qualifizierung und allgemeine Arbeitsbedingungen lassen sich so zwar tarifvertraglich, gleichzeitig aber auch maßgeschneidert regeln. Hierbei können Arbeitsbedingungen für das Unternehmen bundesweit einheitlich, lokal differenziert, dynamisch oder statisch geregelt werden. Dies ist nicht selten eine Win-Win-Situation. Die Besonderheiten des Unternehmens werden berücksichtigt und die Gewerkschaft hat eine Tarifbindung erhalten.

Neben der Tarifwelt entwickeln sich aber auch tariffreie Betriebsmodelle. Selbst Spitzen der Arbeitgeberverbände warnen die Gewerkschaften vor diesem Schritt der Mitgliedsunternehmen. Was für die Gewerkschaften eine inakzeptable Tarifflucht ist, ist für die Unternehmen irgendwann ein logischer Handlungszwang. Tariffreie Betriebsmodelle sind dabei ein Zusammenspiel aus mehreren arbeitsrechtlichen Instrumenten. Die wesentlichen Akteure sind der Arbeitgeber, die Betriebsräte sowie die Mitarbeiter. Die rechtlichen Werkzeuge sind die Beendigung der tarifgebundenen Verbandsmitgliedschaft, Betriebsvereinbarungen, Regelungsabreden, Gesamtzusagen, Arbeitsverträge sowie Spaltungsvorgänge und Betriebsübergänge. Alle bekannten rechtlichen Hürden für ein tariffreies Betriebsmodell wie beispielsweise der Tarifvorbehalt und der Tarifvorrang des Betriebsverfassungsgesetzes, die Nachbindung und Nachwirkung des Tarifvertragsgesetzes oder die Rechtsprechung zu den tarifvertraglichen Bezugnahmeklauseln sind rechtlich überwindbar. Die Streik- und sonstigen Eskalationsszenarien müssen im Einzelfall betrachtet werden – speziell im Zusammenhang mit dem betrieblichen Organisationsgrad der Gewerkschaftsmitglieder. Tarifgebundene Unternehmen müssen für sich bewerten und prüfen, ob und wie ein tariffreies Betriebsmodell wirtschaftlich Sinn macht und rechtlich sowie „politisch“ umsetzbar ist.

Eine weitere Variante wären Kombinationen aus einem Haus-, Unternehmens- und Firmentarifvertrag und einem Betriebsmodell – also ein tarifliches Betriebsmodell. Der Tarifvertrag regelt Bereiche bewusst nicht oder bietet ausreichende Öffnungsklauseln, sodass den Betriebsparteien genug Gestaltungsspielraum für betriebsspezifische Regelungen verbleibt. Sind Unternehmen gezwungen, Abweichungen oder sogar eine Ablösung vom Flächentarifvertrag zu erreichen, gibt es rechtliche Lösungen.

Tariffreie und tarifliche Betriebsmodelle müssen für die Mitarbeiter nicht zwingend Nachteile bedeuten. Unternehmen werden gefragten Mitarbeitergruppen auch außerhalb eines Flächentarifvertrages gute Arbeitsbedingungen bieten müssen. Zudem werden das „Wort“ und die Rolle des Betriebsrates deutlich an Bedeutung gewinnen. Konzern-, Gesamtbetriebsräte oder die lokalen Betriebsräte werden die zentralen Verhandlungspartner der Unternehmen.

Fazit

Tariffreie oder tarifliche Betriebsmodelle sind kein Tabubruch. Solange Unternehmer in Deutschland diesen Weg einschlagen, ist der Erhalt von Beschäftigung am Standort Deutschland noch ein unternehmerisches Ziel. Tariffreie oder tarifliche Betriebsmodelle werden sich wohl weiter ausbreiten, wenn Tarifrunden geführt und Arbeitskämpfe angedroht werden, als ob es 2020/2021 keine Krise gegeben hätte. Arbeitsbedingungen ohne unternehmensbezogene Differenzierung führen im „best case“ zur Weiterentwicklung der Arbeitsbedingungen in den Unternehmen innerhalb Deutschlands – im „worst case“ jedoch zu einer Abwanderung der Unternehmen.

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