Sammelklagen werfen unlösbare Fragen auf

"Fünf Jahre nach Inkrafttreten des Kapitalanleger-Musterverfahrensgesetzes („KapMuG“) ist das Thema Sammelklagen nach wie vor umstritten. Nachdem eine wissenschaftliche Evaluationsstudie das KapMuG grundsätzlich positiv bewertet und einen Gesetzentwurf für eine Verallgemeinerung dieses Konzepts vorgelegt hatte, haben nun Vorarbeiten für einen Diskussionsentwurf auf Ministeriumsebene begonnen. Die EU-Kommission untersucht seit längerem insbesondere in den Bereichen Kartell- und Verbraucherschutzrecht die Einführung sog. kollektiver Rechtsbehelfe. Burkhard Schneider, Partner bei Clifford Chance, erläutert den aktuellen Stand der Dinge."

Hat das KapMuG die Erwartungen erfüllt? Tatsächlich ist bisher kein einziger rechtskräftiger Sachentscheid ergangen. In den Telekom-Klagen ist ein Musterentscheid möglicherweise 2011 zu erwarten, also rund zehn Jahre nach Einreichung der ersten Klagen und rund fünf Jahre nach deren Überleitung in ein Musterverfahren. Im seit 2005 anhängigen DaimlerChrysler-Verfahren hat der BGH nun zwei Auslegungsfragen dem EuGH zur Vorabprüfung vorgelegt. Der Abschluss der zu Grunde liegenden landgerichtlichen Verfahren rückt damit in weite Ferne.

Ein relativ junges Musterverfahren betrifft die HypoReal Estate. Das geltend gemachte Schadensvolumen von rund 1 Mrd. Euro sprengt selbst die Dimensionen des Telekom-Verfahrens. Im HRE-Musterverfahren sind erstmals große deutsche Investmentfonds beteiligt, die über eine deutsch-amerikanische Anwaltssozietät ihre Interessen gebündelt haben. Dies ist das Ergebnis jahrelangen Werbens einiger Anlegerschutzanwälte, die den Fondsgesellschaften und Depotbanken immer wieder eine kosten- und risikolose Beteiligung mit Prozessfinanzierern oder auf Erfolgshonorarbasis angetragen haben. Da die Fondsgesellschaften und Depotbanken treuhänderische Pflichten gegenüber den von ihnen verwalteten Sondervermögen und den Anlegern besitzen, können sie im Einzelfall zur Beteiligung an Schadensersatzklagen verpflichtet sein. Die Prozessfinanzierungen eliminieren das Kostenrisiko der Fonds, so dass eine Nichtteilnahme an einer Klage auf den ersten Blick als Pflichtverletzung angesehen werden könnte. Nach dieser Logik, deren Richtigkeit allerdings zweifelhaft ist, müsste sich die Fondsbranche ständig mit Millionen- und Milliardenbeträgen an Anlegerklagen beteiligen. Dies würde den bisher eher von Massenverfahren mit Privatanlegern dominierten Bereich der Securities Litigation in Deutschland erheblich verändern.

Niederlande – Neues Forum für Millionenklagen

Die in Deutschland aktiven Anlegerschutzanwälte haben seit einiger Zeit die Niederlande als Forum für Schadensersatzklagen entdeckt, denn das dortige Rechtssystem sieht sehr niedrige Kostenrisiken bei Millionenklagen vor. Zudem bietet es die Möglichkeit zum Abschluss von Vergleichen, die mit Billigung des Gerichts universelle Bindungswirkung auch gegen nicht beteiligte Anleger entfalten sollen, ähnlich wie bei US Class Actions. Wegen des neuerdings eingeschränkten Zugangs ausländischer Kläger zu Sammelklagen gegen nicht-amerikanische Emittenten vor US-Gerichten haben die Niederlande als Ausweichforum zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Die Idee kollektiver Rechtsschutzverfahren auf EU-Ebene muss scheitern, solange die Rechtswirklichkeit in der EU durch Zersplitterung geprägt ist. Ein EU-Kollektivrechtsschutzverfahren müsste ein neuartiges EU-weites gerichtliches Zuständigkeitssystem schaffen. Ein weiteres Problem bestünde in der Bestimmung anwendbaren Rechts für die Individualansprüche, und zwar auch in solchen Rechtsgebieten, in denen die EU Richtlinienrecht geschaffen hat. Denn den nationalen Gesetzgebern ist freigestellt, ob sie eine bestimmte Richtlinienvorgabe zivilrechtlich oder verwaltungsrechtlich umsetzen, und ob individueller Schadensersatz verlangt werden kann.

Problemlösung bleibt an Gerichten hängen

Kollektive Rechtsschutzbehelfe können auch ohne die „Auswüchse“ des US-Rechtssystems die prozessuale Waffengleichheit zu Lasten der Beklagten verschieben. Die Loser-Pays-Regel schreckt kaum von missbräuchlichen und unbegründeten Klagen ab. Die Rechtsverteidigung ist in der Regel so komplex und aufwändig, dass die gesetzlichen Kostensätze bei weitem nicht auskömmlich sind. Zudem führt in deutschen Massenverfahren die verbreitete Belastung der Beklagten mit einer Umkehrung der Darlegungslast zu einem gegenüber der Klägerseite erheblich größeren Bearbeitungsaufwand. Verschlimmert wird das Ungleichgewicht, wenn das Kosten-erstattungsrisiko durch Erfolgshonorarmodelle praktisch ausgeschaltet wird. Unlösbar erscheint das Problem der Missbrauchskontrolle bei kollektiven Rechtsschutzmechanismen. Zur Missbrauchskontrolle vorgeschaltete Klagezulassungsverfahren könnten nur dann befriedigen, wenn sie dem Beklagten ausreichend rechtliches Gehör und ggf. auch Rechtsmittel gegen eine Klagezulassungsentscheidung gewährten.

Die Einführung eines EU-einheitlichen kollektiven Rechtsschutzmechanismus ist fragwürdig und verursacht derzeit unlösbare Folgeprobleme. Vor der Schaffung eines solchen Rechtsschutzmechanismus müssten die materiell-rechtlichen und zivilprozessualen Systeme der Mitgliedstaaten vereinheitlicht werden. Dies ist auf absehbare Zeit auszuschließen. Aber auch die bevorstehende Novellierung des KapMuG wirft zahlreiche unlösbare Fragen auf. Deshalb darf schon jetzt die Prognose gewagt werden, dass der Gesetzgeber die Klärung dieser Probleme den Gerichten überlassen wird.

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