Europäische Betriebsräte
Europäische Betriebsräte (EBR) sind in der Landschaft der Mitbestimmung Aliens, in der Errichtung sehr aufwendig, ihr Unterhalt teuer, sie sind unflexibel und eigentlich schwach in der Mitbestimmung. So die allgemeinen Vorwürfe. Tatsächlich ist eine Vielzahl der Vorwürfe berechtigt. Der europäische Betriebsrat ist eine Arbeitnehmervertretung EU-weit operierender Unternehmen und Unternehmensgruppen, d.h. mit Betrieben oder Unternehmen in mehreren Mitgliedsstaaten. Einzurichten ist ein europäischer Betriebsrat in Unternehmen bzw. Unternehmensgruppen, die in den 31 Ländern des europäischen Wirtschaftsraums zusammengerechnet mindestens 1.000 Beschäftige haben und dabei mindestens jeweils 150 Beschäftigte in zwei verschiedenen Ländern einsetzen. Eine diesbezügliche Initiative kann dabei sowohl von der zentralen Leitung als auch von Arbeitnehmerseite ausgehen, wobei Letzteres der Regel entspricht. Erforderlich ist hierfür ein Antrag, der von 100 Arbeitnehmern oder ihren Vertretern aus mindestens zwei Ländern unterzeichnet werden muss.
Die Existenz europäischer Betriebsräte zieht nicht selten erhebliche Herausforderungen insbesondere für die Arbeitgeberseite nach sich. Die Errichtung geschieht meist durch ein sogenanntes special negotiation body, eine Versammlung der Betriebsräte, die im worst case ein babylonisches Sprachengewirr darstellt und nur durch Simultanübersetzer zu gegenseitiger Verständigung gebracht werden kann. Die Kosten für die Errichtung und den Betrieb sind insbesondere für Unternehmen, die wirklich europaweit agieren, sehr hoch: Das Wirtschaftsministerium von Großbritannien bezifferte die Kosten für die Gründung des europäischen Betriebsrats auf rund 150.000 Euro sowie die laufenden Kosten auf durchschnittlich rund 250.000 Euro jährlich.
Hat man sich nach drei Jahren Verhandlung mit diesem Gremium nicht geeinigt, tritt ein sog. „default europäischer Betriebsrat“ nach dem Gesetz des jeweils führenden Landes ein und die tatsächliche Arbeit kann beginnen. Aufregend ist diese Arbeit auf den ersten Blick jedoch nicht. Die gesetzlichen Rechte des europäischen Betriebsrates ergeben sich nach der Europäischen Betriebsrat - Richtlinie aus Art. 1 II, III, VI, Art. 6 I, II c), Art. 10 I, III und Art. 12 I-III. In dem Europäischen Betriebsräte - Gesetz sind diese Rechte in §§ 27, 29, 30, 31 EBRG statuiert und sehen im Wesentlichen ein Recht auf Sitzungsdurchführung und -einladung sowie ein Recht auf Unterrichtung und Anhörung durch die zentrale Leitung vor. Echte Mitbestimmungsrechte bestehen nicht.
Obwohl die Rechte des europäischen Betriebsrats von geringem Ausmaß sind, können diese in der Praxis allerdings Schwierigkeiten bereiten: Die Informationsrechte führen dazu, dass es teilweise äußerst problematisch ist, den europäischen Betriebsrat in einzelnen Ländern mit Aufgaben zu betrauen, weil in diesem Falle sofort das gesamte Netzwerk informiert werden muss.
Noch weitaus schwieriger ist folgende Informationskaskade: Der europäische Betriebsrat muss, wenn in mehreren Ländern etwas Relevantes geschieht, grundsätzlich zuerst informiert werden. Dies führt aber dazu, dass der Arbeitgeber Gefahr läuft, die für ihn wichtige Informationsherrschaft, z.B. über Restrukturierungen, zu verlieren. Informiert man den europäischen Betriebsrat, reisen in der Regel die Vorsitzenden der wichtigen Gremien der Arbeitnehmermitbestimmung – in Deutschland Konzernbetriebsrat und wichtige örtliche Betriebsräte – zur Sitzung des europäischen Betriebsrates. Dort erfahren diese dann alle relevanten Informationen und können diese bereits jetzt an die Belegschaft weitergeben, ohne dass der Arbeitgeber vorab die Chance hat, in den nationalen Gremien beispielsweise im Wirtschaftsausschuss etc. in Deutschland die Gremien zu erreichen. Die weitergegebenen Informationen entfalten sich daher über Verlautbarungen, die nicht mehr vom Arbeitgeber steuerbar sind. Zu befürchten ist in diesem Fall auch, dass die Belegschaft und Dritte bereits Kenntnis erlangen, bevor der Arbeitgeber selbst vor Ort informieren kann. Dies ist zwar grundsätzlich nicht so vorgesehen, kann aber realistisch nicht ausgeschlossen werden.
Ein weit größerer Mangel des Rechts des europäischen Betriebsrates ist aber der gesetzlich lediglich oberflächlich geregelte Fall des Zukaufs und Verkaufs von Unternehmen mit der Folge, dass faktisch jedes Mal der europäische Betriebsrat komplett neu gewählt werden muss. Innovationsbestrebungen werden häufig eingebremst, weil daraus resultierende Nachteile und insbesondere Rechtsunsicherheit vermieden werden sollen.
Eine Hilfe kann die Aufnahme einer das Gremium möglichst lange erhaltenden Klausel in der verhandelten Regelung des europäischen Betriebsrates darstellen. Wichtig ist, dass die Klausel das Verfahren regelt, wie die Vereinbarung an die geänderte Struktur angepasst werden soll. Darüber hinaus muss sie nach § 37 EBRG zwei wesentliche Voraussetzungen erfüllen: Zum einen müssen Anpassungen nach wesentlichen Strukturveränderungen des Unternehmens oder der Unternehmensgruppe erfasst sein, zum anderen dürfen bei widerstreitenden EBR-Vereinbarungen, etwa beim Zusammenschluss von Unternehmen, keine der bislang bestehenden Gremien von dem Verfahren über mögliche Anpassungen der EBR-Vereinbarung von vorneherein ausgeschlossen sein. Diese Klausel sollte darüber hinaus darauf ausgerichtet sein, möglichst viele Fälle von Strukturveränderungen zu umfassen, aber gleichzeitig auch nicht zu viele Vorgaben zu enthalten, um Freiräume zu erhalten. Der europäische Arbeitgeberverband Businesseurope hat zum Umgang mit wesentlichen Strukturänderungen in Unternehmen einen Vorschlag für eine Anpassungsklausel erarbeitet:
"Wenn sich die Struktur des Unternehmens wesentlich ändert, z.B. aufgrund einer Verschmelzung, Übernahme oder Spaltung, verpflichten sich die unterzeichnenden Parteien, einen Dialog mit allen betroffenen Parteien aufzunehmen mit dem Ziel, die notwendigen Anpassungen vorzunehmen. Dasselbe Verfahren findet Anwendung, wenn eine solche wesentliche Strukturänderung dazu führt, dass eine oder mehrere EBR-Vereinbarungen, die widersprüchliche Bestimmungen enthalten, nebeneinander bestehen würden."
Die Klausel von Businesseurope ist uns zu unkonkret. Unseres Erachtens bedarf es Regelungen, die bei Transaktionen automatisch zur Aufnahme neuer Mitglieder bzw. zum Ausscheiden von Mitgliedern bei gleichzeitigem Erhalt des Gremiums führen – auch wenn dies zumindest zu einem bestimmten Maße die grundlegenden Rechte des bestehenden Gremiums antastet.
Bei kleinen Veränderungen könnte man sogar darüber nachdenken, an der verhandelten Regelung festzuhalten, dass der europäische Betriebsrat in seinem Bestand unangetastet bleibt. Hierbei ist allerdings eine negative Veränderung leichter darstellbar als eine positive bei Hinzutreten neuer Unternehmen. Diese könnten dann schlicht nicht beteiligt werden.
Fazit
Letztlich besteht nach unserer Erfahrung die Problematik, dass in der verhandelten Regelung bei einem Großteil der bestehenden europäischen Betriebsräte eine solche Anpassungsklausel nicht vorgesehen ist. Wir empfehlen daher, die bestehenden Regelungen zu überprüfen und eine solche Klausel aufzunehmen. Besser noch wäre eine gesetzliche Regelung.
Damit wird zugleich ein weiteres grundlegendes Problem europäischer Betriebsratsregelungsverhandlungen offensichtlich: Während Arbeitnehmervertreter verständlicherweise versuchen, die Mitbestimmungsrechte auszudehnen, ist es das Ziel von Arbeitgebervertretern Kosten einzudämmen und Kontrollmechanismen einzuführen. Eine Regelung über den Ein- und Austritt von Unternehmen bzw. den Zukauf von Unternehmen hat währenddessen niemand auf seiner Agenda. Beide Seiten sollten ein großes Interesse an einer Regelung für Transaktionen haben, denn sie wirkt sich auf Arbeitnehmerseite auf die Handlungsfähigkeit und die Vertretungsmöglichkeiten durch den europäischen Betriebsrat aus. Der Arbeitgeber hingegen muss gegebenenfalls bei jedem Ver- oder Zukauf die Kosten der Neuwahl tragen. Zusätzlich hat er unter Umständen ein nicht repräsentatives Gremium vor sich, das bis zu einer Neuwahl, welche nach Neuverhandlung der Regelung einige Zeit in Anspruch nehmen kann, der alleinige Ansprechpartner ist.
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