Anachronismen im Arbeitszeitgesetz

Das Arbeitszeitgesetz basiert in weiten Teilen auf der Arbeitszeitverordnung von 1938 und enthielt bis vor kurzem noch Artikel, die aus der Weimarer Reichsverfassung übernommen worden waren. Abgesehen von der Straßenverkehrsordnung dürfte in Deutschland gegen kein Gesetz häufiger verstoßen werden, als gegen das Arbeitszeitgesetz. Das ist darauf zurückzuführen, dass es den Bezug zur Realität der modernen Arbeitswelt verloren hat, meint PLATOW-Kolumnist Thomas Hey.

Essentieller Bestandteil der heutigen Arbeitswelt ist die Nutzung von Handhelds, Smartphones, SMS und vor allem Social Media. Dies führt dazu, dass Arbeitnehmer ständig erreichbar sind und die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit immer mehr verschwimmen. Für die rechtlichen Fragestellungen, die dadurch entstehen, sieht das Arbeitszeitgesetz keine oder jedenfalls keine praxisgerechten Lösungen vor: Wie ist z. B. die Tätigkeit eines Arbeitnehmers im Vertriebsaußendienst anzusehen, der mit seinen Kunden als ""Freund"" auf Facebook verbunden ist und sowohl innerhalb als auch außerhalb der regulären Arbeitszeit mit ihnen über Facebook kommuniziert? Wie ist es zu bewerten, wenn ein Arbeitnehmer nachts um 0 Uhr vor dem Schlafengehen noch einmal seine E-Mails auf dem Blackberry checkt, nach dem Überfliegen der neuen Nachrichten um 0:07 Uhr das Blackberry weglegt und beruhigt schlafen geht? Was ist, wenn er seinem Vorgesetzten noch eine Antwort schickt – ""Mach ich morgen"" oder ""okay einverstanden""? Sieht man in derartigen Sachverhalten eine Unterbrechung der gesetzlich vorgeschriebenen Ruhepause von elf Stunden, dürfte der Arbeitnehmer am nächsten Morgen erst wieder gegen 11 Uhr im Büro erscheinen. Andernfalls läge ein Verstoß gegen das Arbeitszeitgesetz vor.

Einzelne Großkonzerne versuchen dieses Problem zu lösen, indem sie die E-Mail-Server für einen bestimmten Zeitraum für bestimmte Personenkreise abschalten. Dies konterkariert natürlich zum einen den Zweck von Smartphones, E-Mails, SMS etc. der jederzeitigen Erreichbarkeit; zum anderen lösen die Konzerne so das Problem der dienstlichen und zugleich auch privaten Nutzung von Facebook, Twitter etc. nicht. Arbeitnehmer desselben Unternehmens können im Übrigen auch ohne das Zutun des Arbeitgebers miteinander kommunizieren, wenn sie über Social Media miteinander vernetzt sind.

Andere Unternehmen haben bereits intelligentere Lösungen entwickelt: Hier wird zwischen verschiedenen Zeiten mit unterschiedlicher Arbeitsintensität unterschieden. So gibt es die Regelarbeitszeit, in der ganz normal gearbeitet wird, entweder im Büro, vom Home Office, beim Kunden oder an einem sonst vereinbarten Regelarbeitsort. Dann gibt es den Zeitraum, in dem der Arbeitnehmer via Blackberry und Handy erreichbar ist. Schließlich gibt es eine Zeitzone, in der der Arbeitnehmer nur über eine Notfallnummer erreichbar ist und dann gibt es Zeitphasen und –spannen, in denen der Arbeitnehmer gar nicht für seinen Vorgesetzten oder von anderen Kollegen kontaktiert werden kann. Dies ist ein Modell für eine Führungskraft. Je nach Rang wird es mehr und weniger von diesen Phasen geben bzw. wird die Erreichbarkeit verringert sein. Ein Modell, das – ohne es so zu nennen – schon wieder sehr stark die Elemente von Rufbereitschaft und Bereitschaftsdienst aufgreift, ist flexibler und ermöglicht auf der anderen Seite aber das ""völlige Abschalten"" des Arbeitnehmers. Daher ist es grundsätzlich zu begrüßen, wenn solche Modelle entwickelt und gelebt werden. Die Vermischung von Privatem und Dienstlichem kann es aber nicht aufheben. Zudem sind solche Modelle typischerweise für große Organisationen geeignet, in mittelständischen Strukturen aber nur schwer durchzuhalten.

"Echte"" und ""unechte"" leitende Angestellte

Eine zweite Realität der heutigen Arbeitswelt, der das Arbeitszeitgesetz nicht gerecht wird, besteht darin, dass es viele nichtleitende Angestellte gibt, die sehr hohe Einkommen erzielen. Ungeachtet der Einkommenshöhe gilt für diese – anders als für leitende Angestellte – das Arbeitszeitgesetz. Gewähren Unternehmen Führungskräften ab einer bestimmten Ebene einen Oberklassedienstwagen, Prokura und einen Arbeitsvertrag, der auf ""leitende Angestellte"" lautet, macht das allein aus diesen bekanntermaßen noch keine Führungskräfte. Tatsächlich lässt sich in den meisten Unternehmen die Zahl der ""echten"" leitenden Angestellten an einer Hand abzählen. Es gibt aber immer mehr sehr hoch vergütete Angestellte. Insbesondere im Bereich der freien Berufe gibt es heute zahlreiche Großunternehmen, die eine Vielzahl Angestellter beschäftigen, deren Tätigkeit mit weit über EUR 100.000 im Jahr vergütet wird. Diese Angestellten dürfen grundsätzlich nicht mehr als 48 Stunden arbeiten – ein Wochenarbeitsbudget, das zu der mitunter gezahlten Vergütung in keinem Verhältnis steht. Im Jahre 1938 – und auch noch lange danach – wären viele dieser Angestellten aus den freien Berufen selbständig gewesen und aus diesem Grunde nicht unter das Arbeitszeitgesetz gefallen.

Für dieses Problem der Höchstarbeitszeitgrenze hält die EU-Arbeitszeitrichtlinie, auf die das Arbeitszeitgesetz heute aufbauen sollte, eine Lösung bereit: Eine Opt-out-Regelung, wie sie z. B. in England gesetzlich eingeführt ist, ermöglicht eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 13 Stunden an sechs Tagen in der Woche – und dies ohne Ausgleich. Angesichts der veränderten Realitäten ist zu erwägen, ob für hoch bezahlte Arbeitnehmer entweder eine Bereichsausnahme oder zumindest eine Opt-out-Regelung auch in Deutschland zeitgemäß wäre.

Ich möchte nicht falsch verstanden werden: Die EU-Arbeitszeitrichtlinie und auch das Arbeitszeitgesetz erfüllen wichtige Funktionen. Die Wahrung des Gesundheitsschutzes verdient oberste Priorität. Darüber hinaus muss dem Arbeitnehmer die Möglichkeit gegeben werden, seine persönliche Work-Life-Balance zu gestalten. Jedem Arbeitnehmer sollte indes so viel Privatautonomie eingeräumt werden, selbständig zwischen einer hoch bezahlten und dementsprechend auch hoch belastenden und einer geringer vergüteten und dementsprechend auch geringer belastenden Tätigkeit wählen zu dürfen.

Das Problem der modernen Kommunikationsmittel um Social Media lässt sich so einfach leider nicht lösen. Eine klare gesetzliche Abgrenzung von privater und beruflicher Sphäre sowie die Regelung einer Erheblichkeitsschwelle für Störungen in der Freizeit und schließlich eine zeitgemäße Definition der Rufbereitschaft könnten erste Ansätze sein.

Es wäre gut, wenn der Gesetzgeber hier zeitnah tätig würde. Das Arbeitszeitgesetz ist ein wichtiges Regulativ von Arbeit und Freizeit. Und so wenig es nach meiner Auffassung für wichtige Fragen des aktuellen Arbeitslebens Antworten bereithält, so wichtig ist es, der Zunahme von Burn-outs und anderen arbeitszeit- und überlastungsbedingten Problemen vorzubeugen. Hierzu bedarf es aber einer sachgerechten und zeitgemäßen Regelung.

Thomas Hey ist Fachanwalt für Arbeitsrecht und Partner der Anwaltssozietät Clifford Chance in Düsseldorf.


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