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Virtuelle Hauptversammlung – Großer Wurf oder „totes Recht“?

Sebastian Beyer / Nikolaus Plagemann
Sebastian Beyer / Nikolaus Plagemann © Taylor Wessing

_ Das Gesetz zur dauerhaften Einführung der virtuellen Hauptversammlung ist am 27.7.22 in Kraft getreten. Damit wird Gesellschaften auch nach dem Auslaufen der pandemiebedingten Übergangslösung am 31.8.22 die Möglichkeit gewährt, ihre Hauptversammlung ohne physische Präsenz der Aktionäre oder ihrer Bevollmächtigten abzuhalten. Mit einer Umfrage bei börsennotierten Unternehmen aus dem DAX, MDAX, SDAX und dem Prime Standard (Auswahl der weiteren 70 Unternehmen mit der größten Marktkapitalisierung per 30.6.22) haben die internationale Wirtschaftskanzlei Taylor Wessing und die in der Kapitalmarkt- und Finanzdienstleistungskommunikation führende Beratung Edelman Smithfield ein erstes Stimmungsbild zur Bewertung des Gesetzes durch die Praxis erhoben. Dabei zeigt sich: Die meisten Unternehmen sehen die dauerhafte Möglichkeit der virtuellen HV als durchaus positiv an, kämpfen aber noch mit zahlreichen praktischen Umsetzungsfragen. Sebastian Beyer und Nikolaus Plagemann, Salary Partner bei Taylor Wessing, stellen die Studie vor und ordnen die Ergebnisse für die Rechtsberatungspraxis ein.

Die Ergebnisse im Überblick

Bewertung im Mittelfeld dominiert

Im Durchschnitt wurde das neue Gesetz auf einer Skala von 1 bis 10 mit 5,25 bewertet. Während wenige Unternehmen das Gesetz sehr gut bewerteten (9 bis 10), gaben immerhin rund 32 Prozent recht gute Bewertungen im oberen Bereich (ab Wert 7). Insgesamt dominierte allerdings die Bewertung im Mittelfeld.

Gesetz nicht der große Wurf

Damit zeigt sich ein vielseitiges und aufschlussreiches Bild: Unternehmen scheinen das Gesetz insgesamt nicht als den großen Wurf zu bewerten, den sie sich gewünscht hätten. Sie zeigen sich aber dennoch offen, die neuen Möglichkeiten, die das Gesetz ihnen bietet, zu nutzen und zu erproben. Diese Einschätzung spiegelt die im Gesetzgebungsverfahren aus der Sphäre der Unternehmen vielfach geäußerten Kritikpunkte wider, spricht aber gegen die – in den Augen vieler – vorschnelle Bewertung des Gesetzes als „totes Recht“, das in der Praxis unangewendet bleibt.

Bei einzelnen Punkten waren viele Unternehmen noch nicht festgelegt. Gerade zu diesem frühen Zeitpunkt, zu dem die Bewertung vielfach noch nicht abgeschlossen ist, dürfte die Studie den zahlreichen Unternehmen, welche mit ihren Rechtsabteilungen, Vorständen und Versammlungsleitern die neuen Möglichkeiten derzeit sondieren, nützliche Orientierungspunkte bieten.

Abwägung für und gegen eine virtuelle Hauptversammlung

Ein Fragenkomplex betraf die Abwägung zwischen der Hauptversammlung in dem neuen virtuellen Format und der hergebrachten Hauptversammlung in Präsenz.

53 Prozent der Unternehmen haben angegeben, dass sie, jedenfalls für die ordentliche Hauptversammlung, eine virtuelle Durchführung in Betracht ziehen. Ein hoher Anteil dieser Unternehmen beabsichtigt die verbindliche Verankerung der virtuellen Hauptversammlung in der Satzung, ein geringerer Teil eine Ermächtigung des Vorstands. Bei denjenigen Unternehmen, die eine Satzungsregelung erwägen, zeichnet sich eine deutliche Tendenz dahin ab, die für die entsprechende Satzungsregelung festzulegende Befristung auf das gesetzliche Maximum von fünf Jahren auszudehnen.

Gut die Hälfte der Unternehmen hat angegeben, dass sie bei der Entscheidung für oder gegen eine virtuelle Hauptversammlung zunächst die Etablierung einer Best Practice abwarten. Von diesen Unternehmen haben gut die Hälfte angegeben, dass sie als Vergleichsmaßstab auf sämtliche börsennotierte Gesellschaften achten. Demgegenüber haben mehr als 85 Prozent der DAX-Gesellschaften erklärt, dass sie bezüglich der Best Practice nur auf die eigene Gruppe schauen. Für andere Börsensegmente scheint der DAX40 keine besondere Vorbildfunktion zu haben.

Weiter möchten die meisten der Unternehmen (73 Prozent) flexibel und situativ zwischen den Formaten wählen. Ob allerdings die virtuelle Hauptversammlung auch bei außerordentlichen Hauptversammlungen zur Anwendung kommen soll, hat ein Großteil noch nicht abschließend entschieden.

Nur für 6 Prozent der Unternehmen kommt eine virtuelle Hauptversammlung generell nicht in Frage. 47 Prozent der Unternehmen haben allgemeine Bedenken gegenüber der virtuellen Hauptversammlung. Diese haben u.a. technische Risiken, mangelnde Rechtssicherheit und den Aufwand gegenüber der Hauptversammlung in Präsenz angegeben.

Umgang mit Aktionärsfragen

Ein weiterer Fragenkomplex befasste sich mit den Möglichkeiten zum Umgang mit Aktionärsfragen. 9 Prozent der Unternehmen möchten generell Fragen bis in die virtuelle Hauptversammlung hinein ermöglichen, was bei diesen Unternehmen die Einrichtung von entsprechenden Back-Offices bedingen dürfte, um die zur Beantwortung der Fragen benötigten Informationen zusammenzustellen.

Generell beabsichtigen viele Unternehmen, von den gesetzlichen Beschränkungsmöglichkeiten Gebrauch zu machen. Dies lässt auf eine gewisse Unsicherheit hinsichtlich des neuen Formats schließen, zeugt aber auch von dem Bemühen um eine effiziente Durchführung der Hauptversammlung, wie sie etwa auch der Deutsche Corporate Governance Kodex nahelegt.

Im DAX40 weichen einige Werte vom Durchschnitt aller Börsensegmente ab. So erwarten 67 Prozent der Unternehmen mehr Fragen, 85 Prozent wollen das Recht zur Einreichung von Fragen auf ordnungsgemäß angemeldete Aktionäre beschränken und die Veröffentlichungspflicht von Aktionärsfragen und deren Beantwortung auf der Website kommt mit einem Mittelwert 2,54 von 10 weniger gut an.

Geäußerte Bedenken: Technische Risiken und mangelnde Rechtssicherheit im Fokus

Im Rahmen einer offenen Frage hatten die Unternehmen die Möglichkeit, ihre Bedenken und Kritikpunkte zu dem neuen Gesetz und seiner Umsetzung in der Praxis mittels eines Freitextfelds mitzuteilen. 17 Unternehmen haben hiervon Gebrauch gemacht. Genannt wurden zahlreiche verschiedene Gesichtspunkte.

Zentraler Kritikpunkt waren technische Unsicherheiten (32 Prozent), gerade auch hinsichtlich bislang vielfach nicht hinreichend erprobter Aspekte wie der Zwei-Wege-Videokommunikation.

Weiter wurde der Aufwand gegenüber der physischen Durchführung der Hauptversammlung, insbesondere durch die Kombination von Präsenz- und Online-Elementen, vielfach als hoch und unverhältnismäßig empfunden (20,6 Prozent).

Einige Unternehmen sehen auch Beschlussmängelstreitigkeiten und mangelnde Rechtssicherheit als großes Risiko (17,6 Prozent).

8,8 Prozent der Unternehmen haben erklärt, keine Vorteile gegenüber einer Hauptversammlung in Präsenz zu sehen. Teilweise machten die Unternehmen auch aktionärsschützende Aspekte geltend, etwa soweit die technische Überforderung älterer Aktionäre genannt wurde. Die Befürchtung eines Missbrauchs von Aktionärsrechten, etwa durch eine Flut von Fragen, spielte auch nach den vielfach positiven Erfahrungen der vergangenen drei Hauptversammlungssaisons eine – wenn auch geringere – Rolle.

Fazit: Offenheit trotz verbleibenden Unsicherheiten und weiterer Reformbedarf

Die aussagekräftige Beantwortung der auf einzelne der neuen gesetzlichen Regelungen bezogenen Fragen zeigt zum einen, dass die meisten Unternehmen den neuen gesetzlichen Möglichkeiten offen gegenüberstehen und bereit sind, von dem neuen Format dauerhaft Gebrauch zu machen. Zum anderen gibt sie bereits erste belastbare Indikatoren über eine künftige Best Practice, insbesondere bei Aspekten, bei denen der Gesetzgeber einen Ermessensspielraum vorsieht. Zwar besteht im Umgang mit Einzelfragen der neuen gesetzlichen Regelungen derzeit vielfach noch Unsicherheit, allerdings sind die rechtlichen und tatsächlichen Fragen, die Gegenstand der Studie sind, nicht unlösbar und bilden die Grundlage eines sich fortentwickelnden, zukunftsfähigen Hauptversammlungsformats und einer im Entstehen begriffenen Best Practice.

Die Ausgestaltung der Aktionärsrechte, gerade auch das weitreichende und gegenüber der Präsenz-Hauptversammlung facettenreich regulierte und in der Praxis gegebenenfalls schwer abgrenzbare Nebeneinander von Stellungnahme-, Auskunfts-, Rede- und Nachfragerechten samt der dazugehörigen Beschränkungsmöglichkeiten, wird in der Praxis vielfach als wenig praktikabel eingeschätzt. Beispielhaft kritisierte ein Teilnehmer: „Die virtuelle Hauptversammlung hätte effizienter und effektiver werden können und das unter Wahrung sämtlicher Aktionärsrechte.“

Während für die virtuelle Hauptversammlung gemäß dem COVID-19-Gesetz aufgrund der äußeren Umstände vielfach keine freie Wahl zwischen den unterschiedlichen Formaten gegeben war, werden sich zukünftig möglicherweise zwei Lager von Unternehmen herausbilden: Solche, die grundsätzlich die virtuelle Hauptversammlung vorziehen und diejenigen, welche ihre Hauptversammlungen weiterhin in dem hergebrachten Format in Präsenz abhalten möchten. Umfassende Praxiserfahrung mit beiden Formen der Hauptversammlung werden vorwiegend spezialisierte Berater sammeln können, die regelmäßig eine hinreichend große Zahl von Versammlungen in beiden Formaten begleiten.

Das eingefangene Meinungsspektrum legt zudem weitergehenden Reformbedarf im Aktienrecht offen. In diesem Zusammenhang spielt insbesondere das Beschlussmängelrecht, das zuletzt auch ins Blickfeld des Gesetzgebers gelangt ist, eine besondere Rolle. Gerade dieser Aspekt dürfte die von zahlreichen Unternehmen geäußerten Bedenken hinsichtlich rechtlicher und tatsächlicher Unsicherheiten hervorrufen. Somit kommt der Studie, auch vor diesem Hintergrund, ein erheblicher rechtspolitischer Aussagewert zu.

Hier geht’s zur Studie

 

Zur Methodik

Von den insgesamt 230 für die Befragung ausgewählten Unternehmen wurden sechs Unternehmen ausgenommen, die aufgrund ihrer ausländischen Rechtsform keine Hauptversammlung nach deutschem Recht durchführen. Die Durchführung der Studie lief vom 19.7. bis 5.8.22. Die Studie umfasste rund 20 Fragen (inklusive zwei offener Antwortfelder) und war anonym. An statistischen Daten wurden lediglich das Börsensegment beziehungsweise die Indexzugehörigkeit erhoben. Kontaktiert wurden die mit der Durchführung der Hauptversammlung typischerweise befassten Stellen (Vorstand, Aufsichtsrat, Investor Relations, Rechtsabteilung, Corporate Office). Um die Teilnahme mehrerer Vertreter eines Unternehmens und damit eine Verzerrung der Ergebnisse auszuschließen, erhielt jedes Unternehmen einen individualisierten und nur einmalig verwendbaren Zugangscode. Die Anzahl derjenigen Unternehmen, die zu einer jeweiligen Frage Angaben gemacht haben, bildet die jeweilige Bezugsgröße für die angegebene Verteilung der Antworten.

82 Unternehmen haben an der Befragung teilgenommen (37 Prozent), davon waren 66 Rückläufe vollständig (29 Prozent). Die Teilnahmequote ist erfreulich hoch ausgefallen, was sowohl auf eine hohe Beachtung der Gesetzesänderung in der Praxis als auch auf ein entsprechend hohes Interesse an den Möglichkeiten, welche die neue Rechtslage bietet, schließen lässt. Auch bestand aufgrund der – vielfach positiven – Erfahrungen mit dem Format der virtuellen Hauptversammlung aus der Pandemiezeit bereits während des Gesetzgebungsverfahrens eine entsprechende Sensibilität. Einzelne Unternehmen haben erklärt, sich vorerst wegen der noch laufenden Abstimmungen mit Vorstand, Aufsichtsrat und Versammlungsleiter noch nicht zu der Thematik äußern zu wollen.


Über die Autoren

Sebastian Beyer, LL.M., ist Salary Partner bei Taylor Wessing und Anwalt für Aktien- und Kapitalmarktrecht. Er zählt insbesondere internationale börsennotierte und kapitalmarktorientierte Unternehmen, Investmentbanken und weitere Kapitalmarktteilnehmer zu seiner Mandantschaft. Der Fokus seiner Beratungspraxis liegt auf Kapitalmarkttransaktionen, insbesondere bei Aktienplatzierungen und Börsenzulassungen, sowie öffentlichen Übernahmen. Darüber hinaus berät er Vorstände und Aufsichtsräte börsennotierter Unternehmen zu rechtlichen und strategischen Fragen.

Nikolaus Plagemann, ebenfalls Salary Partner bei Taylor Wessing und Anwalt für Aktien- und Kapitalmarktrecht, berät Unternehmen und ihre Entscheidungsträger umfassend in gesellschaftsrechtlicher Hinsicht bei grundlegenden Entscheidungen und Strukturmaßnahmen sowie deren Umsetzung. Darüber hinaus berät er bei Unternehmenskäufen, Übernahmen und gesellschaftsrechtlichen Transaktionen. Plagemann verfügt über eine breite Praxiserfahrung sowie vielfältige interdisziplinäre Kenntnisse durch seine langjährige frühere Tätigkeit als Syndikusrechtsanwalt bei namhaften börsennotierten und international agierenden Konzernen.

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